Comic Radio Show

Joe Sacco: Palästina

Rezensionen / Politik & Geschichte
geschrieben von Peixe am 04.03.2010, 00:00 Uhr

Die Comic-Reportage

Joe Sacco: Palästina [1] Jugendliche schämen sich, weil keinen grünen Ausweis besitzen, der zeigt, dass sie wegen der Intifada schon in Haft waren. Sechs Anträge braucht ein palästinensischer Bauer, um seine Waren zu exportieren, nicht selten bleibt verderbliche Ware liegen. Die Beschwerdestelle für die Übergriffe israelischer Siedler auf palästinensische Häuser liegt in der Siedlung der Täter. Joe Sacco berichtet in Comic-Bildern über Palästina und an Orte, wo sonst keine Filmkamera Bilder einfängt.

Das Lesen dieser Comic-Reportage ist ein Trip in eine komplexe und spannungsgeladene Region. Die Bilder brennen sich ein, besonders das Bedürfnis der Menschen, sich jemandem mitzuteilen: Das Frösteln in Wellblechhütten und der unumgängliche Tee der Gastgeber, der Alltag in Flüchtlingslagern, groß wie Städte, und im Gefängnis Ansar III, wo Gefangene nach „gemäßigtem physischem Druck“ unbesehen alles unterschreiben, was die Not beendet. Die vorletzte Episode fasst all diese Demütigungen und Ungerechtigkeiten zusammen: Soldaten schikanieren einen palästinensischen Jungen, den sie im pladdernden, kalten Regen stehen lassen, während sie sich unter ein Vordach stellen und ihm Fragen stellen. Das regenüberströmte Gesicht des gepeinigten Jungen groß im Vordergrund, fragt Saccos Stimme aus dem Off: „Was wird aus einem, der sich selbst für vollkommen machtlos hält?“

Joe Sacco: Palästina

Joe Sacco hat hier einen Meilenstein in einem neuen Comic-Genre vorgelegt: die Comic-Reportage! Und er hat Maßstäbe gesetzt, die bislang unerreicht blieben. Seine Bilder fangen mit fein ziseliertem Pinselstrich sowohl Landschaften als auch Individuen ein und vermitteln eine unheimlich dichte Atmosphäre. Seine eigene Rolle als Journalist und teilnehmender Beobachter bleibt stets präsent, weil es sich in dieser Rolle ins Bild bringt. Die Bildkompositionen sind durchweg der Bewegung des Erzählten angepasst: großflächige Nahaufnahmen für persönliche Begegnungen, distanzierter Abstand vor schwarzem Hintergrund bei brutalen Szenen und bei einer gewalttätigen Demonstration zerfällt die Großaufnahme in kleine, durcheinander wirbelnde Panels, wenn die Demonstranten aufgerieben werden. So bringt Sacco vollendete Comic-Technik und das gute Gespür eines Journalisten zusammen. Saccos Comicreportage basiert auf Interviews und Beobachtungen des Journalisten Sacco zwei Monate vor Ort im Westjordanland und im Gaza-Streifen Ende 1991. Sein Interesse galt der palästinensischen Lebenswirklichkeit, weil er die israelische Position in den US-Medien zur Genüge präsent fand.

Joe Sacco: Palästina

1993 veröffentlichte Sacco „Palästina“ in Episoden und wurde schon 1996 in den USA mit dem Harvey Award preisgekrönt. In deutscher Sprache veröffentlichte es zuerst der Verlag Zweitausendeins 2004, dank Edition Moderne ist dieser Klassiker der Comic-Reportage jetzt endlich wieder in einer Neuauflage erhältlich. So erklärt sich auch, warum die zweite Intifada und die aktuellen Entwicklungen nicht auftauchen. Den Völkern in Israel und Palästina wünscht man, dass Saccos Buch irgendwann nur noch historisches Interesse weckt, doch die Probleme sind heute noch dieselben. Darum haben die fast 300 Seiten bleibenden Wert, denn die Art der Zusammenstellung bleibt sachlich, dabei packend, gewährt ungeahnte Einblicke und stellt dokumentarisch Widersprüchliches nebeneinander, so dass die Lesenden ins Nachdenken kommen müssen, um nicht irre zu werden.

Joe Sacco ist ein maltesisch-amerikanischer zeichnender Journalist. 1994/95 reiste er mehrfach nach Bosnien, um über die Lage dort nach dem Konflikt zu berichten. Es entstanden ähnlich dichte Comicreportagen, die noch der Übersetzung ins Deutsche harren: Safe Area Gorazde: The War in Eastern Bosnia 1992-1995; The Fixer: A Story from Sarajevo; War's End: Profiles from Bosnia 1995-96. Mit seinem neuesten Werk kehrt Sacco zurück nach Palästina, es heißt „Footnotes in Gaza“ (2009).

Joe Sacco: Palästina

PS: Als Quasi-Nachfolger könnte man Guy Delisle mit seiner Trilogie "Shenzhen" [2], "Pjöngjang" [3] und „Aufzeichnungen aus Birma“ [4] (Reprodukt) sowie Emmanuel Guibert / Didier Lefèvre / Frédéric Lemercier mit „Der Fotograf“ [5] (in Deutsch 3 Bände, [6] Edition Moderne) bezeichnen. Diese Bücher sind durchweg lesenswert und gehen über harmlose Reiseberichte weit hinaus, sind aber verglichen mit „Palästina“ doch eher halbgare Versuche hinsichtlich des Niveaus der Reportage.


Palästina
Grafik/Text: Joe Sacco
mit Vorworten von Ulrich Tilgner und Joe Sacco
287 Seiten, Broschur, s/w
Edition Moderne, Zürich, 26 Euro
2009 (Neuauflage)



Palästina kann man in der Neuauflage auch hier kaufen [7]

Palestine im englischen Original kann man hier bei amazon.de kaufen [8]

(c) der Abb.: Editoion Moderne und Joe Sacco




PS: Die ComicRadioShow und Joe Sacco:
- Die erste Erwähnung von Joe Sacco und Palästina im Jahr 2000" [9]

- Comic-Journalist Joe Sacco bei Fumetto 2002 [10]

- Harvey Award für Sacco [11]

- Erste Rezension von Palestine durch Jochen [12]

- Joe Sacco interviewt Rutu Modan [13]

- Platz 8 bei den besten Comics des Jahrzehnts [14]

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