Comic Radio Show

Interview zu "Holocaust im Comic"

Interviews / Krieg etc.
geschrieben von Maqz am 22.12.2008, 20:26 Uhr

mit Julia Franz vom Anne Frank Zentrum Berlin

Die Suche [1] Die Comic Radio Show hat ja in diesem Artikel [2] über die Fachtagung: "Holocaust im Comic - Tabubruch oder Chance?" berichtet. Nun haben wir Julia Franz vom Anne Frank Zentrum Berlin dazu Interviewt.

ComicRadioShow: Frau Franz, können Sie uns kurz die wichtigsten Ergebnisse der Fachtagung erläutern?

Julia Franz: Auf der Fachtagung stellten wir die Ergebnisse eines Pilotprojektes mit der Graphic Novel "Die Suche" und einem begleitenden Arbeitsheft für Schülerinnen und Schüler in Deutschland vor. Ziel war es herauszufinden, ob die mit den in den Niederlanden entwickelten Arbeitsmaterialien auch hier funktionieren und inwiefern diese an die Rahmenbedingungen und thematischen Besonderheiten des Unterrichts zum Nationalsozialismus und Holocaust in Deutschland angepasst werden müssen.
Die Suche
Wir konnten berichten, dass die Materialien auf reges Interesse der Jugendlichen trafen und produktiv für den Unterricht zum Thema Holocaust genutzt werden konnten. Aufgrund unserer Beobachtungen und Befragungen haben wir Ideen für eine Adaption der Arbeitshefte und eine pädagogische Handreichung zu den Materialien erarbeitet. Auf der Fachkonferenz stellten wir die Ergebnisse zur Diskussion und regten so einen sehr interessanten Austausch über Formen und Inhalte des Unterrichts zu NS und Holocaust an. Die meisten Teilnehmenden waren Lehrerinnen und Lehrer, die ihre eigenen Erfahrungen in die Diskussion einbrachten, vor allem in den Workshops. Immer wieder ging es dabei auch um das Medium Comic und um andere Comics zum Thema Holocaust. Es war sehr anregend.

CRS: In der Recherche zu diesem Thema bin ich immer wieder auf Kritik gestoßen, die gerade dem Medium "Comic" den Einsatz im Geschichtsunterricht (besonders zum Thema 3. Reich und Holocaust) absprechen. Halten Sie diese Einwände für berechtigt?

Julia Franz: Es wurde immer wieder kritisch gefragt, ob die Darstellung im Comic nicht verharmlose. Interessant war, dass diese Kritik auch von einigen Jugendlichen in den Testklassen kam. Ihre Kritik an der Darstellung von Auschwitz kann als Ausgangspunkt der Auseinandersetzung dienen. So sagte ein Schüler: „... der Comic ist eigentlich viel zu „brav“ dargestellt, sie sollten dann schlimmere Bilder verwenden, wie es auch wirklich war.“ Die Forderung nach drastischen, möglichst schreckensvollen Darstellungen und nach „Authentizität“ wird immer wieder gestellt. Sie kann aus pädagogischer Perspektive durchaus problematisiert werden. Als Kritik von Schülerinnen und Schülern kann sie als Anregung zur vertieften Auseinandersetzung mit Darstellungsformen und Darstellbarkeit genutzt werden.

CRS: Welche Vorteile hat ein Comic als Unterrichtsmaterial gegenüber anderen Formen der Unterrichtsgestaltung wie z.B. Film, Zeitzeugen etc.)

Julia Franz: Die berechtigte und notwendige Frage nach Darstellung, Darstellbarkeit und Perspektivität lässt sich hier im wahrsten Sinne des Wortes anschaulich bearbeiten. Diese Fragen sollten natürlich auch an Filme und andere Quellen gerichtet werden, aber beim Comic stellen sie sich eher, weil diese Form der Darstellung des Holocaust ungewohnter ist.

Ein weiterer Vorteil ist, dass die sequenzielle bildliche Darstellung erlaubt, den Bildern im eigenen Tempo zu folgen. Manche Jugendliche sagten uns, es gehe ihnen im Film oft viel zu schnell.
Die Suche
CRS: Warum soll gerade "Die Suche" von Eric Heuvel für den
Geschichtsunterricht besonders geeignet sein? Hatte Heuvel seine Graphic Novel für diesen "Einsatz" im Klassenzimmer konzipiert?

Julia Franz: "Die Suche" ist für den Unterricht entwickelt worden, und von Beginn an
waren Pädagog/-innen, Schulklassen und Historiker/-innen an der Konzeption
beteiligt. Das unterscheidet "Die Suche" von vielen anderen Comics zum
Thema Holocaust.
Neben der fiktiven Geschichte der Familie Hecht finden sich zahlreiche
historische Zusammenhänge und Hintergründe in der Geschichte: zB werden
die Pogromnacht 1938, die Wannseekonferenz und das Konzentrationslager
Auschwitz dargestellt.
Im Mittelpunkt stehen die Rollen von Verfolgten, Helfern, Zuschauern und
Tätern. Damit erlaubt die Lektüre von "Die Suche" neben der Aneignung
historischer Fakten auch die Auseinandersetzung mit Handlungsoptionen und
-alternativen.

CRS: Lassen sich die Ergebnisse Ihres Tests zum Einsatz von Comics im
Geschichtsunterricht auch auf Comic-Titel wie z.B. "Maus" von Art
Spiegelman übertragen?

Julia Franz: Zum Teil schon. Es hat sich gezeigt, dass die Auseinandersetzung über die
Art der Darstellung für Schülerinnen und Schüler wichtig ist. Dass es
ihnen also auch ein Bedürfnis ist, den Stil zu diskutieren, bei "Maus"
lässt sich ja die Darstellung als Tiere (Mäuse, Katzen, Schweine)
kontrovers diskutieren. Und über die Darstellung kann ein Zugang zur
Geschichte des Holocaust gelingen.
Allerdings können wir aufgrund unseres Projektes keine Aussagen über die
Eignung anderer Comics treffen, weil sich unsere Beobachtungen immer ganz
konkret auf den Einsatz von "Die Suche" und den begleitenden Materialien
bezogen.
Die Suche
CRS: Wie kann Geschichtsunterricht mit einem Comic in der Praxis
aussehen?

Julia Franz: Sehr unterschiedlich. "Die Suche" ist sowohl als Beginn der Beschäftigung
mit dem Holocaust geeignet als auch zur vertiefenden Auseinandersetzung.
Konkrete Beispiele für Unterrichtsansätze werden in der
Tagungsdokumentation veröffentlicht, die ab Januar 2009 beim Anne Frank
Zentrum erhältlich sein wird.

CRS: Gibt es schon Pläne, den Comic in Deutschland bei einem
Schulbuchverlag, wie beispielsweise Klett, zu publizieren?

Julia Franz: Es ist geplant, »Die Suche« bei einem deutschen Verlag zu publizieren.
Dazu befinden wir uns derzeit in Gesprächen.

CRS: Im Leseraum des Jüdischen Museums in München finden sich
erstaunlich viele Comic-Titel zum Thema Holocaust. Würden sie sich
wünschen, diese zusammen mit "Die Suche" auch in deutschen
Schulbibliotheken wiederzufinden?

Julia Franz: Ja, das wäre natürlich gut! Auch wenn hierzulande viele Jugendliche nur
wenige Comics gelesen haben, ist ihr Interesse daran sehr groß.

CRS: Reagierten eigentlich die Schüler in Polen und Ungarn anders auf
den Comic?

Julia Franz: Die Reaktionen der Schüler war denen in Deutschland recht ähnlich, auch hier herrschte im Großen und Ganzen die Meinung »Die Suche« sei lehrreich und spannend. Interessanterweise gab es eher Einwände seitens der Lehrerinnen und Lehrer. In Polen beispielsweise wurde bemängelt, dass die polnische Perspektive fehle und «Die Suche» aus einer sehr westeuropäischen Sicht dargestellt werde.
Einigen Lehrern in Ungarn fehlte das Thema «Kollaboration». Hieran
zeigen sich auch die Schwerpunkte der Auseinandersetzung mit dem Thema
Shoah in den verschiedenen Ländern.
Die Suche

CRS: Und wie erwarten Sie, werden die Vertreter von Schulen bzw.
Geschichtslehrer auf ihre Erkenntnisse zu "Die Suche" reagieren?

Julia Franz: Dadurch, dass wir seit Beginn der Pilotphase eng mit Geschichtslehrerinnen und -lehrern zusammenarbeiten, entstehen die neuen Materialien - Arbeitshefte und pädagogische Handreichung - aus der Praxis heraus. Ich denke, dass sie daher gut angenommen werden. Viele Lehrerinnen und Lehrer, auch anderer Fachrichtungen, warten gespannt darauf, es gibt einen großen Bedarf an neuen didaktischen Formen.

CRS: Wie werden Sie nun mit dem Comic weitermachen?

Julia Franz: Der deutschsprachige Comic wird weiterhin in dieser Form erhältlich sein. Die begleitenden Materialien werden basierend auf den Ergebnissen des Pilotprojektes adaptiert. Mit ihrem Erscheinen werden wir dann voraussichtlich auch einführende Workshops für Pädagoginnen und Pädagogen anbieten.

CRS: Wo kann man sich über zukünftige Veranstaltungen informieren?

Julia Franz: Das Anne Frank Zentrum versendet monatlich einen Newsletter, in dem über alle Aktivitäten informiert wird. Man kann sich dazu auf der Homepage www.annefrank.de einmalig anmelden und erhält automatisch den Newsletter. Selbstverständlich werden aber öffentliche Veranstaltungen immer auf der Internetseite des Anne Frank Zentrums [3] angekündigt.

CRS: Frau Franz, vielen Dank für diese Informationen!





Julia Franz über sich selbst: Ich bin Sozialpädagogin, 28 Jahre alt und bin als freie Mitarbeiterin im Anne Frank Zentrum, u.a. für das Projekt "Die Suche" tätig. Mit meiner Kollegin Janika Hartwig habe ich die Hospitationen in den Schulklassen und die Befragung der Schüler/innen und Lehrer/innen durchgeführt.
Und ich bin mit Comics großgeworden
:-)



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