Kennen wir sie noch, die alten nordischen Göttergeschichten?
[1] Odin, der einäugige Allvater, Loki, der Trickster-Gott mit Hang zum Chaos, Thor, der donnernde Muskelprotz mit Hammer - Namen, die heute vor allem durch Marvel, Netflix und Streaming-Serien durch die Wohnzimmer donnern. Doch lange bevor Chris Hemsworth den Hammer schwang, waren diese Gestalten Teil einer der faszinierendsten Mythenwelten Europas. Genau hier setzt das Comicbuch Nordische Mythen - Von Göttern, Wikingern und Ragnarök an, erschienen im Knesebeck Verlag, geschrieben von Stephen Davies und bebildert von Seaerra Miller. Es will Kindern (ok und Erwachsenen) ab acht Jahren zeigen, wo all die göttlichen Dramen ursprünglich herkamen und das mit viel Humor, Farbe und einer guten Portion Wissensdurst.
Witzig, wild, wissenswert ... oder zu viel auf einmal?
Das Konzept klingt nach einem feuchten Traum für Eltern und Pädagoginnen: sechs große Mythen, von der Erschaffung der Welt über Thors Reise nach Utgard bis hin zu Ragnarök, verpackt in bunte Comicseiten. Dazu kleine Infoblöcke mit Zusatzwissen über Asgard, Midgard, Helheim, Götter, Monster und das Leben der Wikinger. Kurzum: Ein Buch, das sowohl Spaß machen als auch klüger machen will. Und tatsächlich auf den ersten Blick gelingt das auch erstaunlich gut.
Miller illustriert die Geschichten mit einem wunderbar modernen Strich - klar, kontrastreich und mit dieser leichten Überzeichnung, die sofort ins Auge springt. Ihre Figuren sind lebendig, frech und in genau dem richtigen Maße karikaturesk. Das verleiht den Mythen eine jugendliche Energie, die sie aus dem Staub der Edda hebt und mitten ins Jetzt katapultiert. Auch sprachlich trifft Davies den Ton: schnoddrig, schnell, stellenweise sogar richtig witzig – so, dass sich wahrscheinlich auch Lesemuffel durch die Seiten blättern wollen.
Aber ... wo Licht ist, da ist auch Nebel über dem Fjord.
Denn so ambitioniert das Ganze ist, so schwer ist es, Mythologie und Comicbalance unter einen Helm zu bringen. Die Geschichten hetzen manchmal ein wenig durch ihre vielen Stationen, und die Übergänge zu den erklärenden Sachtexten wirken mitunter wie eine Bremse. Kaum hat man sich in Thors Abenteuer eingelesen, springt eine Infodoppelseite mit „Tod und Jenseits“ aus dem Album und reißt einen kurz aus dem Flow. Klar, Wissen ist gut, aber der Lesespaß leidet manchmal unter dieser Taktung.
Zudem kratzt das Buch, trotz seiner lehrreichen Absicht, oft nur an der Oberfläche. Wer die Mythen kennt oder sich tiefer für ihre symbolische Bedeutung interessiert, wird feststellen: Hier geht es mehr um Überblick als um Tiefe. Das ist nicht schlimm (immerhin ist die Zielgruppe jung) aber das Versprechen, gleichermaßen witzig und lehrreich zu sein, erfüllt sich nicht vollends. Ein guter Anfang, aber kein Nachschlagewerk.
Ein Comic als Brücke zwischen Asgard und Klassenzimmer.
Am stärksten ist Nordische Mythen immer dann, wenn es sich traut, einfach Comic zu sein; wenn Loki mit übertriebener Theatralik seine Streiche spielt oder Thor sich wieder einmal in seiner eigenen Kraft überschätzt. Diese Szenen leben, sie glühen vor Witz und visueller Kraft. Auch das Layout ist angenehm, mit klarer Panelstruktur und einem Farbkonzept, das die Mythen lebendig, aber nicht grell erscheinen lässt.
Weniger überzeugend sind dagegen manche längeren Infotexte: Sie wirken pädagogisch, wo das Comic gerade spielerisch sein wollte. Das mag Kinder mit etwas mehr Lesefrust eher abschrecken, als sie zu fesseln. Doch als Einstieg in die Welt der nordischen Mythen ist das Buch absolut empfehlenswert; vor allem, wenn man zusammen liest, Fragen stellt, ergänzt und vielleicht nach der Lektüre ein bisschen weiterforscht.
Fazit:
Nordische Mythen ist ein witziger, bunter und sympathischer Einstieg in die Götterwelt des Nordens. Es macht Lust auf mehr, auf Thor jenseits des Marvel-Universums, auf Loki als vielschichtigen Schabernack-Gott, auf Geschichten, die erklären, warum am Ende eben doch alles auf Ragnarök hinausläuft. Es will viel und erreicht vieles davon. Nur manchmal ist der Anspruch, sowohl Comicspaß als auch Lehrbuch zu sein, etwas zu hoch. Doch das ändert nichts daran, dass Stephen Davies und Seaerra Miller einen liebevoll gezeichneten und kurzweiligen Mythen-Crashkurs abgeliefert haben, der Kinder ab acht Jahren auf charmante Weise an große Themen heranführt.
Ein Buch, das den alten Göttern neuen Glanz verleiht (auch wenn dieser Glanz manchmal ein bisschen von der modernen Pädagogik überblendet wird.
Wenn es eine ComicRadioShow-Wertung geben würde, wäre dies eine (7,5/10)!
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(c)opyright der Abbildungen, mit freundlicher Genehmigung: Kenesebeck Verlag 2025
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