Die ungewöhnliche Geschichte von Bill Watterson und seinem legendären Comicstrip.
[1]"Nevin Martell hat in bemerkenswerter Fleißarbeit alles zusammengetragen, was es über Bill Watterson zu erfahren gibt, und hat dafür mit vielen seiner alten Weggefährten gesprochen."
So stimmt einen der hintere Klappentext auf das bevorstehende 303 Seiten umfassende Leseerlebnis ein. Aber wird es auch ein Lesevergnügen?
DIE RIESENSTÄRKE DES BUCHES:
Kurz gesagt: Der Klappentext lügt nicht. Nevin Martell, der sich sympathischerweise direkt zu Beginn als Riesenfan von Watterson outet, hat nicht gekleckert. Mehr als ein Jahr seines Lebens hat er investiert, um die Informationen, die er für wichtig erachtete zu bekommen. Dabei liess sich der bisher durch musik-journalistische Arbeiten bekannte Autor nicht von Rückschlägen abschrecken. Er bereitet für den Leser sehr detailliert den Werdegang von Bill Watterson auf und präsentiert sie nach einem einleitenden Teil chronologisch. Dabei legt er stets Wert darauf, die Bezüge zu dem Hauptwerk "Calvin und Hobbes" zu verdeutlichen. Ferner tauchen immer wieder Fragmente auf, die Antwortmöglichkeiten auf die Fragen: "Was für ein Mensch ist Bill Watterson", "Warum stellte er die Serie am Sylvestertag 1995 ein" und "Warum gibt es eigentlich kein merchandising" liefern sollen.
Der Leser erfährt zunächst, wie und wo der junge Watterson aufwuchs, seine schulischen Erfolge stets schon geprägt von auffallender Begabung zum Zeichnen. An der Uni kristallisiert sich dann die Entwicklung zum (politischen) Karikaturisten heraus, was auch in einen ersten vielversprechenden Job bei einer Zeitung mündet. Und sich als Fiasko für Watterson erweist... Erst später wendet er sich gezielt der Idee zu, Comicstrips um eine eigene Figur zu schaffen. Nach mehreren Versuchen gelingt ihm dann der Coup mit der auf wenige Figuren reduzierten Welt um "Calvin und Hobbes".
All diese Informationen präsentiert Martell dem Leser sehr detailliert und versäumt auch nicht, die Quellen zu beschreiben, seien es Archive in Schulen und Zeitungsverlage, Interviews oder direkte email-Kontakte mit Zeitzeugen. Sehr schön präsentiert er dem Leser die Besonderheiten des US-Amerikanischen Zeitungssystems, welches seit über 80 Jahren organisiert, wie und wo Comicstrips in Zeitungen veröffentlicht werden. Sogenannte Syndikate haben bestimmte Kontingente an Platz in Tageszeitungen oder Magazinen zur Verfügung. Wie, bzw. mit welchen Strips sie diese füllen, bleibt ihnen überlassen. Kommt ein Strip gut an, wird er in mehr und mehr Zeitungen veröffentlicht, die Bekanntheit wächst und mit ihm steigt auch der Erlös für den Autor, der anteilsmässig mitverdient.
Bis heute erschienen die 3160 Folgen von "Calvin und Hobbes" in über 2300 Zeitungen.
Sehr interessant sind auch die Gespräche mit anderen Zeichnern, die Watterson kennen/ kannten oder sogar Freunde von ihm sind/ waren. Als Beispiel sei da nur der von mir sehr geschätzte Jim Borgman erwähnt, der ebenfalls als politischer Karikaturist begann und zusammen mit Jerry Scott mit "ZITS" grossen Erfolg hat.
An einer Stelle verblüfft mich der Autor Martell dann durch eine interessante Parallele: Als er die in den 30ern begonnenen, und in den 80ern zu wahren Riesengeschäften aufgeblasenen Lizenzvergabegeschäften in der Comicwelt zu erläutern beginnt, tut er dies am Beispiel Garfield von Jim Davis. Zwar legt Davis (auch hier hat der Autor es geschafft, direkte Antworten des Zeichners zu erhalten) Wert darauf, dass für ihn der Strip an sich das wichtigste sei. Die Lizenzsache sei einfach nachher dazu gekommen. Bemerkenswert, wenn man sieht, wie sehr er sich an der "Vorlage", dem Peanuts-Imperium von Charles M. Schulz orientiert hatte, welches zuletzt immer noch einen jährlichen Lizenzgewinn von einer knappen Milliarde Dollar einbrachte, wovon Schulz 30-40 Millionen Dollar pro Jahr bekam. Davis hatte sehr schnell, schon 3 Jahre nach Einstieg des Strips, "Davis Paws, Inc." gegründet, einen Unternehmenszweig, der sich ausschliesslich auf die Lizensierungsgeschäfte konzentrieren sollte- bis 2004 erwirtschafteten sie so in 111 Ländern jährlich 750 Millionen bis eine Milliarde Dollar aus dem Verkauf von Garfield-Produkten, heute arbeiten dort mehr als 60 Mitarbeiter.
Jedenfalls hat Martell, genau wie ich, als Jugendlicher „Garfield“ gelesen und die Strips toll gefunden. Er hat sich ebenso wie ich als Fan gefühlt. Aber irgendwann sei bei ihm der Moment gekommen, wo er sie nicht mehr lustig fand, und ihm wurde nicht so recht klar, warum dies so war. Mir ging es da genauso, man kann zwar immer noch über die gags schmunzeln, aber so richtig gut, wie die frühen Strips waren, war es nicht mehr. Eine Nebenfolge geschuldet der extremen Ausrichtung auf gnadenlose Vermarktung von „Garfield“?
Anschliessend schlägt er den Bogen zu Watterson, der stets die Lizensierung von Calvin und Hobbes abgelehnt hatte und sich schliesslich zu diesem Thema gezielt in einem Interview mit dem Plain Dealer zu Wort meldet. Der Titel des daraufhin am 30.8.1987 erschienen Artikel trug die Titelblatt-Schlagzeile: "Der zornige Künstler hinter den liebenswerten Calvin und Hobbes". In der dort erfolgten sehr klaren Stellungnahme, was er von Populärität an sich und der Aufmerksamkeit von Fans einem Künstler gegenüber hält, rundet sich mein Eindruck von Watterson bemerkenswert ab. Es wirkt auf mich wie ein Plädoyer für all die, die sich ein Privatleben wünschen- ungeachtet ihres Bekanntheitsgrades. Die "Idee der Prominenz" wird von ihm ganz klar abgelehnt und für schlecht befunden.
Hoch spannend ist der daran folgende Teil des Buches, in dem der Leser von der "Auseinandersetzung" zwischen dem Syndikat und Watterson erfährt. Die eine Seite wittert mehr und mehr die Möglichkeit, enorm viel Geld zu machen, der Zeichner hingegen will sich und sein Werk nicht korrumpieren lassen und hält dagegen. So ist auch die Beschreibung eines der seltenen öffentlichen Auftritte Wattersons anlässlich einer Ehrung zu Walt Kellys 75. Geburtstags regelrecht packend für mich zu lesen gewesen.
Im Rahmen der "Lizensierungs- und Merchandisegespräche" auf Plüschpuppen von Hobbes angesprochen, reagiert Watterson ausgesprochen sauer: "Die Idee einer Hobbes-Puppe ist besonders widerlich, weil das Faszinierende an Hobbes darin besteht, dass er vielleicht oder vielleicht auch nicht ein echter Tiger ist." Die zu diesem speziellen Thema von Martell zusammengetragenen Stimmen von anderen Zeichnern, u.a. auch dem BONE-Erfinder Jeff Smith, lesen sich überaus kurzweilig.
Ein weiterer Teil des Buches beschreibt einige der Anekdötchen, die dem Autor bei seinen Recherchen widerfuhren. Abgerundet wird das Buch durch einen sehr persönlichen, fast roadmovie-artig beschriebenem Ausflug, der ihn in die Heimat von Watterson führt. Aber dazu sei an dieser Stelle nicht zu viel verraten...
DIE RIESENSCHWÄCHE DES BUCHES:
Die vielen Informationen, die Martell zusammengetragen hat, müssen auf den 303 Seiten des Buches OHNE JEDE ILLUSTRATION, BILDER, FOTOS oder ZEICHNUNGEN AUSKOMMEN !! Nun ist es ja eigentlich kein Problem, ein 300-, 500- oder gar 800-Seiten starkes Buch zu lesen. Wenn man will. Hier allerdings geht es ja im erweiterten Sinne um ein Fachbuch im Comicbereich und an vielen Stellen habe ich innerlich fast aufgeschrien, wenn wieder mal eine frühe Karikatur, eine Zeichnung oder etwas anderes Gezeichnetes erwähnt wurde. Das will man als Leser ganz einfach sehen! Die zahlreichen ersten Hinweise auf "kleine Calvins" am Rand einer Karikatur z.B., da ist es ganz schade, es nicht zu sehen. Ich kann nur vermuten, warum das Buch komplett ohne Zeichnungen und Abbildungen auskommen muss: Wahrscheinlich haben der Autor bzw. sein Verlag den juristischen Aufwand gescheut, so viele, aus so vielen verschiedenen Quellen stammende Abbildungen rechtlich einwandfrei organisiert zu bekommen. Letztlich bleibt der sehr bedauerliche Effekt für den Leser, der nur mit Buchstaben auskommen muss.
Doch halt: Zwei Fotos sind dann doch enthalten, ganz hinten gibt es eine Seite mit dem Titel "Biografien", dort sieht man ein frühes Foto von Watterson am Schreibtisch und eines vom Autor.
Fazit:
Alles in allem ist "Auf der Suche nach Calvin und Hobbes" ein sehr bemerkenswertes Buch geworden, dank der engagierten Recherchearbeit des Autors. Empfehlenswert für Comicinteressierte und natürlich Calvin und Hobbes-Fans. Es hätte meiner Meinung nach noch viel besser werden können, durch Bebilderung zu den vielen Quellen, seien es die, die Watterson in jungen Jahren beeinflusst haben, oder die, in denen man etwas über seine Entwicklung als Zeichner erfährt.
Der Käufer bekommt für 24,90 Eur ein prima verarbeitetes Buch, das viele Stunden informativer Lektüre bietet. (js) [2]
Auf der Suche nach Calvin und Hobbes
CARLSEN COMICS
erschienen
303 Seiten, gebunden, im Format 15 x 21,5 cm
24,90 € (D)
25,60 € (A)
Am Besten kauft man sich den Band beim Comichändler seines Vertrauens...jedoch...
Auf der Suche nach Calvin und Hobbes kann man auch hier kaufen. [3]
(c)Abbildungen mit freundlicher Genehmigung: Carlsen Verlag GmbH 2013
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