Genialer Gang in eine fantastische Welt
[1] „Ein neues Land“ des Australiers Shaun Tan ist genial und verstörend schön!
Für alle, die Fantasy und ihre unbekannten, fantastischen Welten lieben!
Für alle, die die Grenzen des Comic-Genres überschritten sehen möchten!
Für alle, die das Experiment wagen wollen, sich in einer skurrilen Welt zurecht finden zu müssen!
Für alle, die keine einzige Sprache sprechen (oder nicht lesen können)!
Keineswegs ist „Ein neues Land“ ein Kinderbuch, wie manchmal angepriesen, aber man kann es gewiss auch mit Kindern zusammen betrachten.
Ich habe „Ein neues Land“ mit wachsender Begeisterung gleich mehrmals geschaut („gelesen“ kann man nicht sagen, da die Geschichte ohne alle Worte auskommt); einem Gast in die Hand gedrückt, musste ich abwarten bis er es - völlig absorbiert - bis zum Ende geschaut hatte. Es ist in vielerlei Hinsicht mit Liebe und Kunstfertigkeit gearbeitet. Inhaltlich beschreibt es die Auswanderung eines Familienvaters aus einem ihn und seine Familie bedrohenden Land. Der gigantische Schatten eines Drachenschwanzes, dann eine die Stadt wie Metastasen durchziehende Krake fassen die beklemmende Bedrohung im Heimatland des Familienvaters. Weitere Flüchtlinge erzählen ihre, nicht minder gruseligen Aufbruchsgründe. Zeitlich ist es dem Szenario nach vor 1950 angesiedelt, aber das ist nicht wesentlich; wer den Anspielungen in seinen Bildern nachgehen möchte, kann sich die historischen Bilder, die Tan in der ausformulierten Nachbemerkung aufzählt, per Bildsuche im Internet vor Augen führen.
Tan nimmt den Betrachter unweigerlich mit auf dem schwierigen Weg, sich in einem völlig unbekannten Land zurecht finden zu müssen – mit sonderbaren Essgewohnheiten, einer unverständlichen Schrift und zahlreichen weiteren, mit viel Humor dargestellten Überraschungen. Der Verzicht auf die Sprache versetzt die Betrachtenden sofort in die Rolle des „Stummen und Sprachlosen“, weil der Sprache des Landes nicht Mächtigen. Auch als Betrachter wird man nicht zum allwissenden Dritten, der durch Begleittext mehr verstünde als der Einwanderer in Tans Geschichte. Ein genialer Schachzug, der kongenial begleitet ist durch die surreale Darstellung des neuen Landes, seiner Sitten und Gebräuche. Nicht einmal das Ablesen der Uhrzeit ist verständlich, geschweige denn Tiere, alltägliche Abläufe, Briefeverschicken, Transport, Telefonieren, alles. Alles ist wie eine neue Fantasy-Welt zu entdecken und zugleich fremd und verunsichernd. Mit solcher Hingabe ans Detail gezeichnet, lohnt es sich, die Bilder - vor allem die großen Impressionen der Landschaften und Stadtszenarien - wie ein Suchbild zu durchforsten nach Details, die einem mehr als einmal ein Schmunzeln abringen.
Durch den Kniff, kein reales Land dieser Welt als Folie für ein „neues Land“ zu verwenden, stehen alle ausnahmslos vor den Rätseln, die dieses von Tan geschaffene Land aufgibt. Die Einfühlung in die Situation eines Immigranten wird dadurch ganz schlüssig und tatsächlich speisen sich viele der eingefangenen, typischen Erfahrungen aus Interviews, die Tan mit Migranten geführt hat während der 4-jährigen Arbeit am Buch; auch sein Vater ist 1960 von Malaysia nach Australien eingewandert. In der Darstellung erinnert der Zeichner und wortlose Erzähler Tan durch wiederholte Wechsel vom Einzelschicksal auf die Totale, dass diese Lebensgeschichte stellvertretend für viele Wanderungs- und Ankommenserlebnisse steht. Zugleich fängt Tan bewegende, gefühlvolle Momente ein, die das Menschliche und die Tragik trefflich vermitteln, etwa in der Szene des Abschieds von seiner Familie oder die Gastfreundschaft von neuen Freunden im neuen Land. Die zeichnerisch fulminante, fotorealistische Gesichterparade der Menschen dieser Welt am Anfang und Ende Buches runden es vortrefflich ab.
Muss ich noch ausdrücklich sagen, ob ich es empfehle? Ganz zu Recht wurde Shaun Tan 2001 als “Best Artist at the World Fantasy Awards” in Montreal/Kanada und mit weiteren Preisen ausgezeichnet, auch für „Ein neues Land“.
Anmerken muss man redlicherweise, dass Tans Werk auf den ersten Blick einen stattlichen Preis kostet: 29,90 €. Die englischen (!) Ausgaben von „The Arrival“ des wortlosen (!) Bildbandes kosten je nach Ausstattung und Herkunftsland zwischen 14,30 € (USA) und 34 € (UK). Dafür ist dem Carlsen Verlag ein echtes Schmuckstück gelungen. Mit festem Einband, vorne und hinten ausgestanzten Seiten, die zudem teilweise mit Folie überzogen sind und die liebevolle Gestaltung Tans aller (!) Seiten (inklusive Schmutztitel und Impressum), ein wunderbares Druckbild und sogar ein Bändchen zum Einlegen machen das Buch zu einer Freude in der Hand und zu einem Prunkstück im Bücherregal.
Ein neues Land
Zeichnungen: Shaun Tan
128 Seiten, Broschur
Carlsen Verlag, Hamburg, 29,90 Euro
Ein neues Land kannst Du gerne hier kaufen [3]
(c) der Abb.: Shaun Tan und Carlsen Verlag
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