Comic Radio Show

9 Fragen an Andreas C. Knigge zu Lost Girls

Interviews / Erotik
geschrieben von Maqz am 29.05.2008, 00:00 Uhr

Quick & Dirty


Andreas C. Knigge Lost Girls, der Porno-Comic von Alan Moore und Melinda Gebbie, erlebt ein bemerkenswertes Medienecho. Für solch einen Comic-Titel ist das schon was besonderes. Auffällig ist, dass in vielen Foren mehr um den Titel herum gesprochen wird. Gelesen haben ihn bisher nur die, die sich die 75 Euro auch leisten konnten. Andreas C. Knigge hat Lost Girls nicht nur gelesen, sondern auch das Nachwort dazu geschrieben. Der Grund für uns, ihn kurz zu fragen, wie er Moores & Gebbies Werk einschätzt.


Lost Girls [1]
ComicRadioShow: Hallo, Andreas. Muss ich denn nun angesichts der vielen Lobeshymnen zu Lost Girls diesem Comic mit besonderer Ehrfurcht begegnen?

Andreas C. Knigge: Das empfiehlt sich bei jedem Werk von Alan Moore! Er hat ja gerade eben den Max-und-Moritz-Preis für sein Lebenswerk nicht ohne Grund bekommen. Alan ist einer der hochkarätigsten, hintergründigsten und zugleich wagemutigsten Autoren, die heute für den Comic arbeiten.

CRS: Bei so vielen Jahren Produktionszeit hat es den Anschein, als sei Lost Girls eher so ein Selbstfindungs-Ding. Für wen hat Moore nun diesen Comic geschrieben? Für Melinda, sich selbst oder doch für "den Leser"?

ACK: Lost Girls hatte ja einen netten Nebeneffekt. Nachdem das Projekt abgeschlossen war, haben Melinda und Alan geheiratet, wozu Alan einmal meinte, 16 Jahre lang gemeinsam an einem pornografischen Werk zu arbeiten, sei die beste Grundlage für eine stabile Beziehung ... Natürlich schreibt Alan für Leser, und zwar für die mit mehr als zwei Gehirnzellen. „Selbstfindung“ oder ähnlicher Klimbim ist seine Welt nun wahrlich nicht, wenn einer weiß, wo der Hammer hängt, dann Alan Moore!
Lost Girls
CRS: Auf welche Qualitäten sollte man als Comic-Fan besonders sein Augenmerk legen?

ACK: Ich sag’s mal bildlich: Auf das „zwischen den Zeilen“. Und davon bersten Alans Comics förmlich über, auch und gerade Lost Girls.

CRS: Hat dieser Comic den (kalkulierten) Tabubruch zum Thema, oder spiegelt Lost Girls inzwischen das normale Allerwelts-Porno-Niveau.

ACK: Alan lässt kaum eine Gelegenheit aus, Lost Girls öffentlich als Porno zu etikettieren, weil er mit seiner Geschichte auch provozieren und Kontroversen auslösen will. Tabus waren ihm schon immer ein Dorn im Auge. Meiner Meinung nach ist Lost Girls allerdings gar keine Pornografie, die sich für mich immer auch dadurch auszeichnet, dass Menschen auf Körper mit Warencharakter reduziert werden. Beardsley oder Bayros nannte man früher Pornografen, heute spricht man von „erotischer Kunst“. Und genau das ist auch Lost Girls. Die einzige perverse Szene findet auf den beiden letzten Seiten statt, das ist der Schlamm der Bombentrichter, garniert mit einer zerschossenen Leiche. Ich glaube übrigens, dass es sich dabei um Wendy handelt. Der Verlag hat das im Nachwort geändert, weil er meint, es sei ein anonymer Soldat – was man dann als Anspielung auf Hans Castorps ungewisses Ende in den Stahlgewittern des I. Weltkriegs in Thomas Manns Zauberberg, der ja die Blaupause für Lost Girls geliefert hat, lesen könnte ... Aber zu solchen Fragen hält Alan grinsend den Mund. Oder er rollt mit den Augen ...

CRS: Wer sollte Deiner Meinung nach wohl hauptsächlich diesen Comic lesen/kaufen?

ACK: Jeder mit mehr als zwei Gehirnzellen und 75 Euro in der Tasche, die er in ein außerwöhnlich intelligentes und zugleich sinnliches grafisches Feuerwerk investieren möchte.

CRS: In Amerika war die Aufregung um den Titel ja viel größer als in Deutschland. Ein Argument war, dass Kinder die Märchenbuch-Aufmachung missverstehen und aus Versehen das Buch durchblättern könnten. Kannst Du diese Besorgnis nachvollziehen?

ACK: Es geht ja auch um Märchenfiguren. Die Hauptrollen spielen Lewis Carrols Alice, Wendy aus Peter Pan und Dorothy aus Der Zauberer von Oz, die nun 1913/14 alle älter geworden sind. Und die durch das Leben ihrer Sexualität, letztlich eine Bekräftigung ihres Daseins, ebenso hilflos wie verletzlich rebellieren gegen den Schatten des Todes, den der nahende Krieg schon über sie wirft. Ich nehme Jugendschutz sehr ernst, aber ich verbiete doch auch keine Autos, obwohl es jedes Jahr Tausende von Verkehrstoten gibt. Als Käufer scheiden Kinder schon allein wegen des Ladenpreises aus, und wenn’s nun mal einem durch Zufall trotzdem in die Finger kommen sollte, weil’s Papa nicht hoch genug ins Regal gestellt hat ... so what? 60 Prozent der 14-Jährigen haben heute bereits Hardcore-Pornos im Internet geguckt. Das muss man nicht gut finden ... aber abschalten deswegen?
Lost Girls
CRS: Wie bedeutend ist Lost Girls im Gesamtwerk Moores?

ACK: Mir persönlich gefallen Watchmen oder From Hell besser, aber Lost Girls ist schon ein ziemliches Bravourstück, ein Meisterwerk. Alan arbeitet so vielseitig, dass sich Vergleiche da einfach verbieten. Jeder muss entscheiden, was er am liebsten liest. Aber das spiegelt dann eine persönliche Vorliebe und sagt überhaupt nichts über Alans Werke.

CRS: Ist Porno mit Niveau nun die (neue?) Comic-Verkaufs-Sensation nach Manga, auf die die Comic-Verlage setzen werden?

ACK: Klar, wir sehen jeden Abend im Fernsehen so viele Morde und Leichen, dass es uns völlig kalt lässt, wenn vor unseren Augen jemand unter Todesängsten zerfetzt wird, das nehmen wir wahr wie die Haferflockenwerbung gleich danach. Und wenn drei Frauen einfach das tun und darüber reden, was nun mal am meisten Spaß macht, dann kreischt alles hysterisch auf. Und darüber wundert sich noch nicht mal jemand, weil wir’s so gewohnt sind. Alan bringt mit Lost Girls genau diese – wirkliche! – Perversion auf den Punkt ... Er verstört, und damit verändert er den Comic. Alan begründet Zäsuren, aber er zieht keine Wellen nach sich, auf die Verlage dann setzten könnten, ganz einfach, weil es kaum jemanden gibt, der ihm das Wasser reichen kann. Alans Comics lösen immer etwas aus, aber sie setzen keine Trends, die sich marketingmäßig ausbeuten ließen.
CRS: Wird es eine Zweite Auflage von Lost Girls geben?
ACK: Das musst du den Verleger fragen. In den USA war die erste innerhalb weniger Stunden vergriffen.

CRS: Andreas, vielen Dank für das "Gespräch".

ACK: Moooment bitte noch! Wir reden hier über ein Werk der Comic-Literatur, dem man später mal einen ähnlich wegweisenden Stellenwert einräumen wird wie Art Spiegelmans Maus oder den Arbeiten von Robert Crumb und Will Eisner, wie Akira oder Watchmen. Da sollten wir den Blick wenigstens einmal auch von den Weichteilen lösen. Melinda Gebbies pastellige Buntstiftzeichnungen stehen nämmlich in krassem Kontrast zu der geleckten Ästhetik handelsüblicher Pornografie, in der aus Menschen Objekte werden. Dass wir bei aller künstlerischen Reflexion, die in Lost Girls stattfindet, bei all den literarischen Anspielungen und Verweisen und tiefenpsychologischer Interpretation hier allein über die Titten und Schwänze reden, das ist genau der irre Punkt, auf den Alan seinen Hammer mit Lost Girls sausen lässt. Das erinnert mich an das Niveau der Bundesprüfstelle in den 1950-er Jahren, gerade mal ein paar Zentimeter toleranter. Über Lost Girls als ein Werk der Comic-Literatur haben wir damit überhaupt noch nicht gesprochen.

xxx

PS: Wir wollten ja nur mal kurz nachfragen und Andreas nicht zu viel seiner Zeit stehlen. Mehr Knigge zu Lost Girls gibt's in seinem Nachwort! ;-)


Lost Girls: LESEPROBE [2]


(c) der Abb. Moore, Cross-Cult, wikipedia (Knigge-Foto)



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