Comic Radio Show

Max und Moritz 2004 - Die Preisträger

Nachrichten / Understanding Comics
geschrieben von gruber am 13.06.2004, 13:27 Uhr

And the winner is...


Das Theater erlebte in diesem Jahr kein langes Vorprogramm und es wurden (mit einiger Verspätung) direkt die Preise verliehen. Dies wollen wir hier auch ohne lange Vorrede sofort verkünden. Wer zu den Gewinnern eine Meinung hat, der kann sie auch hier im Kommentarfeld posten!


Bester auf Deutsch erscheinender Comicstrip


Volker Reiche, Strizz




Von Elke Heidenreichs Sendung im ZDF kann man ja denken was man will, aber die Dame ist heutzutage eindeutig die Richtige, um Bücher zu präsentieren. Literatur hat sich ja in den letzten Jahrzehnten zu einer Frauensache entwickelt, kein Mann mit einem Minimum an Selbstachtung würde ein Buch wie ?Die weiße Massai? oder ?Bridget Jones? auch nur mit der Kohlenzange anfassen. Doch manchmal nutzen eben auch Heidenreichs überemotionale Empfehlungen etwas: Nach ihrer Sendung kletterte Volker Reiches ?Strizz?, der Band, in dem das erste Jahr dieses Ausnahmestrips gesammelt wurde, in der Amazon-Bestseller-Liste von der Nummer dreihundertschießmichtot auf Platz zehn. Ein Erfolg, der dem Strip von Herzen zu gönnen ist.
Seit inzwischen etwas über zwei Jahren erscheint ?Strizz? fünfmal die Woche in der ?Frankfurter Allgemeinen Zeitung? (FAZ) und von Anfang an schlichen sich der Büroangestellte Strizz und seine kleine Familie, der Chef Leo samt Kater Paul, seine Freundin Irmi mit Dackel Müller, der Neffe Rafael und seine umfangreiche Stofftiersammlung, die gerne das ?Philosophische Quartett? nachspielen, in die Herzen der doch meist konservativen FAZ-Leserschaft. Ähnlich wie das große amerikanische Vorbild ?Doonesbury? greift auch ?Strizz? gerne tagesaktuelle Geschehnisse auf, kommentiert die Begebenheiten aus Politik, Kultur und Wirtschaft, über die auf den anderen Seiten der FAZ berichtet wird. Das ist nicht immer so umwerfend albern, wie die täglichen ?Touché?-Strips von ©Tom in der ?taz?, aber auf seine recht zurückhaltende und intelligente Art ist ?Strizz? dann mindestens ebenso witzig. Hoffentlich läuft der Strip noch recht lange in der Zeitung, hinter bekanntlich ?immer ein kluger Kopf? steckt.

Lutz Göllner



Bester deutschsprachiger Comic-Künstler


Ulf K.




Seit Jahren arbeitet Ulf K. an einem großen Farbalbum, das einmal bei Carlsen geplant war und nun irgendwann beim Hausverlag des Zeichners, der Edition 52, erscheinen soll. Doch wenn Ulf K. weiterhin so wunderbare Nebenwerke abliefert, die seinen Lesern die Wartezeit auf das vielbeschworene Opus verkürzen sollen, dann möge er noch lange daran arbeiten. Denn der vierunddreißigjährige Oberhausener, der seit zwei Jahren in Düsseldorf lebt, hat es geschickt verstanden, aus seinen reichhaltigen graphischen Aktivitäten immer wieder kleine publizistische Preziosen entstehen zu lassen, die seinem träumerisch-romantischem Erzählduktus bereits im Erscheinungsbild gerecht werden: dünne Hefte, meist ohne Wort (aber nicht ohne Sprechblasen!) gestaltet und mit einer Zusatzfarbe geschmückt, die den melancholischen Grundton der Geschichten unterstreicht. So ist etwa ?Titus von Götheborg? ausgestattet, eine kleine Sammlung von einseitigen Erzählungen um einen erfundenen Komponisten, die Ulf K. für die ?Neue Musikzeitschrift? gezeichnet hat. Und 2003 hatte er ?Floralia? veröffentlicht, die herzzerreißende Geschichte der Liebe eines Clowns zu einer Blume, die sich gegen die Eifersucht eines Kraftmenschen behaupten muss. Das altertümliche Zirkusmilieu wurde zum idealen Handlungsort für Ulf K.s nostalgisch angelegte Erzählung, die ihn erneut als Meister des Stummcomics vorstellte. Seit er mit ?Tango de la Mort? oder ?Der Sterngucker? seine ersten Erfolge erzielt hat, ist Ulf K. konsequent auf dem eigenen Weg vorangeschritten, hat das Erbe seiner französischen Vorbilder bewahrt und sein spezifisch deutsches ästhetisches Ideal dazugegeben. Dass er damit nur in Frankreich ein Publikum fand, hat sich spätestens mit seinem in der F.A.Z. abgedruckten Fortsetzungscomic ?Der Exlibris? erledigt. Der Prophet gilt etwas im eigenen Land. Und mit der bevorstehenden Publikation seiner gezeichneten Diplomarbeit als Kommunikationsdesigner, die diesmal in ganzseitigen Einzelbildern die Sternen- und Liebesnächte à la Ulf K. inszenieren wird, steht eine echte Innovation auf dem deutschen Markt bevor.

Andreas Platthaus




Beste deutschsprachige Comic-Publikation, Eigenpublikation


Flix, Held


Held ist ein ganz und gar außergewöhnlicher Comic. Außergewöhnlich in der Idee eine Comic-Selbstbiographie über den Punkt ihrer Entstehung hinaus fortzuschreiben und so in einer Projektion, eine Biographie des eigenen zukünftigen noch nicht gelebten Lebens zu schaffen. Außergewöhnlich auch im Können und in der Sicherheit der eingesetzten Mitteln. Zwar ist es heute glücklicherweise so, dass man auch von deutschsprachigen Autoren vermehrt Comics auf internationalem Niveau zu sehen bekommt, selbstverständlich ist das aber noch lange nicht. Außergewöhnlich auch in der Genese ? nicht weil als Abschlussarbeit entstanden, so etwas gibt es mittlerweile immer wieder, sondern weil es ?Held? nach dem Erscheinen als Heftserie in einem Mittelverlag der Szene (Zwerchfell), als ganzes Buch in das Verlagsprogramm eines der führenden Comic-Großverlage (Carlsen) geschafft hat. Außergewöhnlich auch, weil man als Leser über eine der Nostalgie-Retro-Ecke und amourösen Fehlschlägen zuzurechnenden Strecke langsam aber unaufhaltsam in den privaten Kosmos eines teil-erfundenen Menschen, seiner Sorgen, seiner Vorlieben und Obsessionen hineingezogen wird, bis man emotional nicht mehr herauskann aus dem Lebensstrudel des Protagonisten und mit ziemlicher Sicherheit seinen vorprogrammierten Abgang nicht ganz tränenlos überstehen wird. Dem Zeichner und Autor Flix ist mit ?Held? etwas ganz besonderes, eben etwas Außergewöhnliches gelungen. Sollten Sie diesen Band noch nicht kennen, verstehen Sie diesen Nominierungstext bitte als dringende Leseempfehlung!

Harald Havas


Jens Harder, Leviathan

(der Preis wurde doppelt vergeben)



Dieses Album dürfte das erste Beispiel für eine Nominierung in der Rubrik ?Beste deutschsprachige Eigenpublikation? sein, die außerhalb des deutschen Sprachraums verlegt worden ist. Und gewiss auch die erste, die gleich viersprachig daherkommt. Auf deutsch, französisch, englisch und japanisch. Doch das Thema rechtfertigt diesen internationalen Anspruch, denn der Berliner Zeichner Jens Harder erzählt nicht weniger als einen universalen Lebenszyklus, den er um die Figur eines Walfischs arrangiert. Damit knüpft Harder explizit an Bibel, Thomas Hobbes oder Herman Melville an, und auch sein Leviathan ist eine schreckenerregende Gestalt, der allerdings die Menschheit als nicht minder fürchterliche Spezies beigegeben ist. Sintflut und ?Titanic? erzählen bildmetaphorisch-stumm von menschlicher Hybris, während der Wal seinen einsamen Kampf gegen realistisches und allerlei Sagengetier ausficht. Harder hat sich aus dem Mythenschatz ebenso bedient wie bei literarischen Vorbildern, und ihm gelingt ein Arrangement dieser Zitatenvielfalt, das zu einer neuen schlüssigen Erzählung wird. Dass ihm zu diesem Szenario eine kongeniale graphische Umsetzung gelang, ist weiß Gott nicht selbstverständlich in einer Comic-Kultur, die Schwere gerne mit Gewicht verwechselt und deshalb wenig übrig hat für spielerisches Erzählen, wie Harder es hier bei aller Ernsthaftigkeit betreibt. Dass ausgerechnet Thierry Groensteen, der bisher nicht als Liebhaber deutscher Comics aufgefallen war, sich dieses Juwel für seinen Verlag gesichert hat, beschämt seine deutschen Konkurrenten. Doch ob sie überhaupt ein Album von solcher Perfektion in der Ausstattung zustande gebracht hätten, darf man wohl bezweifeln.

Andreas Platthaus




Beste deutschsprachige Comic-Publikation, Import


Marjane Satrapi, Persepolis




Als 2001 beim Pariser Verlag ?L?Association? der erste Band der Serie ?Persepolis? erschien, konnte die Comicwelt mit dem Namen der Zeichnerin wenig anfangen: Marjane Satrapi hatte bis dahin einige Kinderbücher gezeichnet und arbeitete in einem Atelier neben einigen der Association-Größen, aber mehr Berührung zum Comic war da nicht. Doch die Geschichte ihrer Kindheit im Iran zur Revolutionszeit begeisterte nicht nur durch die konsequent durchgehaltene kindliche Perspektive, sondern auch durch die zwar schlichten, aber gerade darum der Erzählung so angemessenen Zeichnungen, die zudem immer wieder meisterhafte Arrangements und ein höchst geschicktes Spiel mit den drastischen Schwarzweiß-Kontrasten aufweisen. Das französische Publikum dankte es mit einer Auflage von mehr als zweihunderttausend Alben, doch es musste erst die Zürcher Edition Moderne kommen, um dieses Meisterwerk des autobiographischen Comics auch im deutschen Sprachraum zugänglich zu machen. In dem prachtvoll ausgestatteten und sorgfältig übersetzten Band sind die ersten beiden französischen Folgen von ?Persepolis? enthalten, die Marjanes Erlebnisse bis zu ihrer Ausreise nach Westeuropa im Jahr 1983 beschreiben, und man kann nur hoffen, dass alsbald auch die beiden weiteren in Frankreich erschienenen Alben, die ihre Ankunft in Österreich und die folgenden Jahre in Frankreich schildern, bald übersetzt werden. Es gibt nicht viele Frauen in diesem Metier, und noch weniger von ihnen haben der männlichen Konkurrenz derart den Rang abgelaufen wie die junge Marjane Satrapi. Man hat als Leser nicht häufig Gelegenheit, unmittelbar zuzusehen, wie Comicgeschichte geschrieben wird. ?Persepolis? aber bietet eine solche Chance.

Andreas Platthaus





Beste deutschsprachige Comic-Publikation für Kinder / Jugendliche


Elisabetta Gnone, W.I.T.C.H.




Erst kamen die Manga. Dann kam lange nichts. Und dann kam W.I.T.C.H.. Und bewies, dass man einen Teil der Manga-Zielgruppe durchaus erreichen (und bezaubern) kann mit Comics, die inhaltlich und auch optisch mehr in einer westlichen Tradition stehen, als in einer ? immer auch etwas eigenartig fremd bleibenden ? fernöstlichen. W.I.T.C.H. übernimmt vom ?Magical Girl?-Manga das Geheimnis, dass man auch heute noch, abseits der lange schon in Frieden ruhenden Pferde- und Mädchen-Comics, durchaus Comics für Jugendliche weiblichen Geschlechts machen kann, die von diesen gerne gelesen, ja, geliebt werden. Der Plot ? ein Gruppe junger Mädchen entwickelt übermenschliche, magische Kräfte und kämpft fortan gegen das Böse ? ist dabei von japanischen Vorbildern entlehnt. Die Charaktere, die Familienbeziehungen, das Umfeld, der Humor und der Italo-Disney-Semifunnstil sind originär westlich, originell und liebenswert. ?Zuckerlbunte? Abenteuercomics für junge Leser(innen)? Sicher ? aber auf sehr hohem Niveau.

Harald Havas



Bester internationaler Szenarist


Joann Sfar, Aktueller Titel: Die Katze des Rabbiners




Das Werk von Joann Sfar ist kaum noch zu übersehen; seit er vor vier Jahren erstmals als bester Szenarist in Erlangen nominiert worden ist, sind grob geschätzt vierzig weitere Alben von ihm erschienen, die meisten auch noch selbst gezeichnet. Sfars Arbeitstempo ist unbeschreiblich, und allein seine tagebuchartigen Notizbücher, von denen in Frankreich seit dem Jahr 2002 vier erschienen sind, umfassen zusammen mehr als tausend Seiten. Dass da seine deutschen Publikationen nicht mitkommen, ist wenig überraschend, aber immerhin sind derzeit mit ?Donjon?, ?Die Katze des Rabbiners?, ?Schwarze Oliven? und ?Merlin? vier Serien erhältlich, die Sfar geschrieben hat. Dass allerdings solche Perlen wie ?Professeur Bell? oder ?Petit Vampire? und ?Grand Vampire? auf deutsch noch fehlen, zeigt den Nachholbedarf gegenüber dem Werk des derzeit produktivsten europäischen Szenaristen. Sfar, 1971 in Nizza geboren, wurde zunächst durch Kinderserien bekannt, erwarb sich aber mit seinen Publikationen bei L?Association alsbald den Status eines Autorenstars. Was auch immer seine Biographie an Besonderheiten bereithält ? Sfar macht Geschichten daraus. Seine jüdische Herkunft lieferte ihm den Stoff für kabbalistische Erzählungen und ließ ihn ein besonderes Interesse für jüdische Künstler entwickeln; aus seinen Lesevorlieben für die Abenteuergeschichten des neunzehnten Jahrhunderts schöpft ?Professeur Bell?, aus seiner Begeisterung für Computerspiele entstand gemeinsam mit Lewis Trondheim ?Donjon?; sein Philosophiestudium regte ihn an, Platons ?Gastmahl? und Voltaires ?Candide? zu illustrieren, und seit Sfar Vater einer Tochter ist, hat er seine eigene Jugendbuchreihe begründet, in der neben den Arbeiten anderer Zeichner mit ?Monsieur Crocodile? ein eigenes Meisterwerk erschienen ist. Kein anderer Szenarist hat ein so breites Spektrum und eine solch überbordende Phantasie.

Andreas Platthaus



Spezialpreis der Jury


36 Ansichten des Eiffelturms, André Juillard




Wenn man einen Gegenstand von 36 verschiedenen Seiten betrachtet, beginnt er, Geschichten zu erzählen. Die Anblicke des Gegenstands verwandeln sich in Ansichten inhaltlicher Natur. Inspiriert von Hokusais ?36 Ansichten des Fujiama? hat André Juillard, eigentlich der Historiker unter den französischen Comic-Künstlern, 36 Perspektiven auf den Eiffelturm in Öl, Kreide und Aquarell festgehalten. Es sind 36 (und mehr, denn es gibt dazu Skizzen und kleine Variationen) Momente in Paris entstanden, Momente, die ein Vorher und Nachher ahnen lassen. Der Eiffelturm, manchmal kaum zu finden auf einem Blatt, dann wieder weit über seine Ränder ragend, wird in einen Zeitfilm versetzt. Die Zeit vergeht zu seinen Stahlfüßen und setzt Geschichten frei. Das Album ?Sechsunddreißig Ansichten des Eiffelturms? kann man durchblättern wie einen Kunstband im Stil des Fotorealismus. Man kann es aber auch lesen wie eine nachdenkliche Comic-Erzählung über Menschen und Dinge in einer großen Stadt.

Herbert Heinzelmann



Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk


Albert Uderzo, Asterix



Albert Uderzo ? Der Witz aus dem Stift
Vielleicht ist der Max und Moritz-Preis des Internationalen Comic Salons Erlangen für das Lebenswerk ja nicht mehr als eine Dreingabe, wenn man dafür schon einen ?Preis des Jahrtausends? in Angoulême bekommen hat. Doch er bezeugt, dass Begeisterung und Respekt dem französischen Nachbarn Albert Uderzo auch von Deutschland aus bekundet werden. Die Begeisterung, die immer noch anhält, gilt hierzulande seit 1967 einem antiken Gallier (vorher hatte man uns im Kauka Verlag ja weis machen wollen, er sei Germane und heiße überdies noch Siggi), einem Helden, auch wenn er selbstironisch klein gehalten ist, einem Sternchen (denn so lässt sich sein Name gültig übersetzen), das zum Star wurde. Sie gilt Asterix.
Der Respekt wird einer Leistung gezollt, die kaum hoch genug einzuschätzen ist. Es ist die Leistung, sichtbares Vergnügen bei der Lektüre von Comic Strips auf die Gesichter erwachsener Menschen gezaubert zu haben, ohne gleichzeitig den Kindern beim Blättern den Spaß zu verderben. Mit einem Asterix-Album in der Hand trauten sich volljährige Deutsche Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts erstmals in aller Öffentlichkeit zu dem zu stehen, was kurz zuvor noch, verurteilt als Schund und Schmutz, dem Analphabetismus Vorschub leisten sollte. Gerade für die Befreiung des Comic-Lesers von der unsinnigen Scham über seine Leidenschaft für Bildergeschichten verdient Albert Uderzo den deutschen Comic-Oscar.
Dabei muss sich die unvermeidliche Frage nach dem Anteil des Zeichners am Erfolg eines Werks stellen, das vor allem in Deutschland wegen seiner szenaristischen Qualitäten anerkannt ist. Asterix wurde und wird geschätzt wegen seiner Handlungskonstruktionen, seiner Wortspiele, seiner satirischen Spiegelungen der Gegenwart in der Antike, seiner parodistischen Potenz. Dafür zeichnet Albert Uderzo aber erst seit dem Tod seines Partners und Texters René Goscinny im Jahr 1977 verantwortlich. Der hatte seit 1959 24 Alben geschrieben, Uderzo hat seither lediglich sieben verfasst.
Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Denn was wären die grandiosesten Comic-Dramen ohne überzeugende Charaktere. Und die vermitteln sich im Comic-Medium zuerst über das Bild. Der Autor mag festlegen, Obelix sei ein Choleriker mit sanftem Herzen. Der Zeichner muss die Form dafür finden. Und da ist es gut zu beobachten, wie intensiv Albert Uderzo im ersten Asterix-Band an der Formgebung des Hinkelsteinlieferanten gearbeitet hat. Ist er anfangs noch eher groß und ungeschlacht, so wird er Seite für Seite rundlicher und eigentümlicher, wird zu jenem Charakter, der dem Leser das Wiedererkennen erleichtert, ja, der ihm die Sehnsucht nach dem Wiedersehen ins Auge setzt.
Als Uderzo und Goscinny die unbesiegbaren Gallier kreierten, hatte der Zeichner bereits manche Erfahrung mit stattlichen Figuren gesammelt. Zu den voluminösen Vorgängern von Obelix gehören der Ritter Belloy und der Indianer Umpah-Pah. Schließlich war Uderzo nicht mehr im Stande grafischer Unschuld, als er für die neue Kinderzeitschrift ?Pilote? die rauferischen Gallier erfand. 1927 als Sohn italienischer Einwanderer in der Nähe von Reims geboren, war er schon mit 14 Jahren als Autodidakt ins Gewerbe von Cartoon und Karikatur gekommen, hatte im Folgenden viele Serien gezeichnet, manche auch mit entwickelt, hatte selbst Szenarien geschrieben, meist aber nach denen anderer Autoren gearbeitet, darunter nach Skripten von Jean-Michel Charlier, dem großen Abenteurer der französischen Comics. Mit ihm hatte Uderzo kurze Zeit die technoide Fliegerserie ?Tanguy und Laverdure? gestaltet und damit bewiesen, wie gut er den realistischen Strich beherrscht. Doch der realistische Typ Tanguy blieb bei ihm ohne wahres Leben und ohne überzeugenden körperlichen und mimischen Ausdruck. Der von der Karikatur abgeleitete Sidekick Laverdure dagegen war einer dieser einprägsamen Comic-Charaktere.
Albert Uderzos Talent liegt eindeutig in der Charakterisierung durch Überzeichnung des Typischen, wie man die Karikatur knapp definieren kann. Sie hat in der grafischen Polemik im Frankreich des 19. Jahrhunderts mit Giganten wie Daumier oder Granville eine Tradition vorgegeben, in die sich Uderzo fugenlos eingliedert. Seine Figuration ist selten nur komisch oder bricht erwachsene Perspektiven zum naiven Kinderblick herunter. Vielmehr entdeckt und entlarvt sie durch die Gestaltung. War etwa Majestix in seinen ersten Auftritten ein freundlicher und figürlich mächtiger Dorf-Chef, so hat ihn Uderzo bald auf den Schild gehoben. Und nun ist es genau die Spannung zwischen dem selbstgefälligen Gesichtsausdruck, den der Zeichner der Figur verleiht, und dem schwankenden Boden auf den Schultern seiner wenig zuverlässigen Untertanen, die augenzwinkernd etwas aussagt über die Macht und ihre Ungewissheit.
Uderzos Stift macht Dinge und Zusammenhänge deutlich, beziehungsweise löst im wissenden Übersprung Gelächter aus, ohne dass er dazu auf textliche Vermittlung angewiesen wäre. Allein durch die Wahl der Blickwinkel in den Panels und durch den Wechsel von Großaufnahmen und Totalen macht er die Gerichtsverhandlung in dem Band ?Die Lorbeeren des Caesar? für Kenner zu einer Parodie auf unzählige Courtroom-Movies aus Hollywood. Überhaupt kann Uderzo sehr filmisch erzählen. Die Einleitungssequenz desselben Bandes ist mustergültiger Beleg dafür. Da wird die Handlung angehalten und zurückgedreht. Eine Rückblende wird eingefügt. Selbst wenn die Dramaturgie vom Szenaristen vorgegeben sein mag, glaubwürdig umgesetzt (bis in den Wegfall der Speedlines beim Anhalten der Handlung) wird sie durch den Zeichner.
In dieser Sequenz kommt übrigens auch der Realist Uderzo wieder zum Vorschein. Die Architektur Roms ist genau studiert und ohne jede spöttische Verzeichnung wiedergegeben. Weitere Belege für Uderzos Nähe zum Kino sind die vielen karikierenden Ehrungen von Filmstars (Laurel und Hardy, Bernhard Blier, Kirk Douglas, Sean Connery u.a.) oder die grandiose Umsetzung der Orgien-Stimmung aus Fellinis ?Satyricon? in Szenen aus ?Asterix bei den Schweizern?. Ausgesprochen visuelle Gags wie Hieroglyphen in den Sprechblasen von Ägyptern oder das Erscheinungsbild der tradierten Schlagwirkungs-Sterne in Form ihrer Anordnung auf der amerikanischen Fahne auf dem Boden der Neuen Welt sind eine weitere Spezialität Uderzos.
So lässt sich der Erfolg eines Comic-Produktes nicht in Verantwortlichkeiten von Texter oder Zeichner auseinander dividieren. Asterix schlug deswegen so ein, weil hier zwei meisterliche Comic-Potenzen zum Team gefunden hatten. Dass mit Goscinnys Tod ein Teil des Teams wegbrach, musste die Serie schwächen. Dass Uderzo ihr die Prägnanz, Brillanz und den entlarvenden Witz seiner Zeichnungen erhielt, ist ein Verdienst, selbst wenn er seine Aufmerksamkeit in den letzten Jahren sehr auf die Verwaltung eines Asterix-Imperiums mit Filmstudio, Freizeit-Park, Merchandising-Produktion und auf ihre Überwachung gelegt hat. Seine Leistung wird es bleiben, uns das Bild eines kleinen gallischen Dorfes und seiner Bewohner liebenswert gemacht und ihre chauvinistischen und cholerischen Absonderlichkeiten durch karikaturistische Verfremdung zugleich ein bißchen der Lächerlichkeit ausgesetzt zu haben. Schließlich hat er die Ikone geschaffen, die ewig in der Ruhmeshalle der Comic-Geschichte aufbewahrt werden dürfte: die Landkarte Galliens unter der römischen Standarte und die Lupe, die das kleine Dorf in der Bretagne sichtbar macht. So wurde Geschichte plötzlich interessant ? und Comics wurden in Deutschland akzeptabel.

Herbert Heinzelmann





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