Leseprobe
Copyright Heike Clausen
1
Inmitten einer wunderbaren Hügellandschaft
weit weg von der Stadt, in
der du lebst, liegt, umgeben von Wiesen,
Feldern und kleinen Waldgruppen
ein kleines Dorf.
Die Menschen dort leben seit Generationen
in Harmonie und Liebe miteinander,
und einer ist für den anderen da.
Es gibt dort keine Unterschiede wie zum
Beispiel 'Arm und Reich'.
In diesem kleinen Dorf sind alle Menschen
gleich. Und wenn es wirklich einmal
vorkommt, dass irgend jemand ein
Problem hat - egal welcher Art -, dann
wird es sofort 'gemeinsam' gelöst.
Die Kinder gehen in einen Kindergarten
oder in eine Gemeinschaftsschule. Und
wenn es das Wetter zuläßt, wird das
Lernen und das Spielen nach draußen unter
freiem Himmel in die freie Natur verlegt.
Denn durch den direkten Kontakt mit der
Natur lernen die Kinder das, was wirklich
wichtig ist im Leben, und erkennen dabei,
was 'Recht' und 'Unrecht' ist.
Seit vielen Jahren ist den Menschen in
diesem Dorf klar, dass die Natur so, wie
sie von Gott erschaffen wurde, der beste
Lehrmeister ist, den man sich für
das Leben nur vorstellen kann.
Die Lehrer der Gemeinschaftsschule und
die Kindergärtnerinnen haben nur ein Ziel:
Gute Wegbegleiter für die heranwachsenden
Jugendlichen und Kinder zu sein.
Wegbegleiter, die ihnen die Chance geben,
selbst zu entscheiden bzw. selbst
zu 'erkennen', was richtig und falsch ist,
damit aus ihnen später einmal Erwachsene
werden, bei denen die Liebe zum
Nächsten ihr Tun bestimmt.
Damit auch die Kinder es an ihre Kinder
weitergeben können.
Also 'sinnvoll' leben und egal. was auch
geschieht, sich eines bewahren: 'Im
Herzen Kind zu bleiben.'
Jeder, der dort lebt, ist mit seinem
Lebensablauf glücklich und zufrieden.
Wenn es einmal vorkommt, was äusserst
selten geschieht, dass die Gemeinde Zuwachs
erhält, das heißt neue Mitbürger,
so werden diese sofort herzlich in die
Gemeinde aufgenommen.
Es ist nicht wichtig, wer sie sind, was
sie sind oder woher sie kommen. Ohne
Vorurteile werden sie angenommen, und
jeder hilft ihnen, damit sie sich in der
Gemeinde wohlfühlen.
Doch was wäre solch ein kleines Dorf
ohne eine 'uralte' Sage, die von Ge-neration
zu Generation überliefert wird?
Es gibt dort keinen, nicht mal ein Kind,
der nicht die Sage von der 'alten Weisen',
jener großen schneeweißen Eule,
die drüben beim alten Sennehaus in der
alten mächtigen Buche lebt, kennt.
Von ihr erzählt die Sage, dass die Eule
schon da war, bevor das Dorf entstanden
ist, und alles gesehen hat, was im
Laufe der Zeit geschah.
Die alten Leute im Dorf erzählen von
ihr, dass sie die 'Hüterin der Welt' sei
und in die Herzen der Menschen schauen
könne.
Einmal im Jahr, nämlich zur Jahreswende,
verwandelt sich diese Eule in ein
menschliches Wesen.
Sie tut dies, um die Dorfbewohner zu
überprüfen, ob ihre Liebe und ihr Glaube
an das Gute noch stark genug sind,
um dem 'Bösen' zu trotzen.
Wenn sie erkennt, dass ein Mensch im
Herzen überschäumt vor Liebe, erfüllt
sie ihm einen Wunsch.
Auch das alte Sennehaus, das am Waldrand
steht, hat sein Geheimnis, von dem
die Dorfbewohner jedoch nichts wissen.
Denn seit jenem tragischen Ereignis vor
zwei Jahren ist niemand mehr dort gewesen.
Deshalb weiß auch keiner, dass
das Sennehaus gar nicht so unbewohnt
ist, wie jeder glaubt.
In diesem Sennehaus lebt der Geist als
Wesenheit des kleinen Benjamin, der vor
zwei Jahren in diesem Haus auf tragische
Weise umgekommen ist.
Als Benjamin starb, war er gerade sechs
Jahre alt. Benjamins Eltern zogen kurz
nach seinem Tod fort, weil sie einfach
nicht vergessen konnten, durch welche
Umstände dies alles geschah.
Benjamin und seine Eltern waren erst
aus der Stadt in das Dorf gezogen, als
Benjamin vier Jahre alt war.
Er stammte also nicht direkt aus die-sem
kleinen Dorf.
Da die Eltern nicht wußten, dass der Geist
von Benjamin noch nicht im Himmel war,
da er sich von diesem wunderschönen
Stück Erde nicht trennen konnte, verließen
sie schon kurz nach seinem Tode das
Haus und zogen in die Stadt zurück.
Sie ahnten beziehungsweise sie wußten
nicht, dass mit dem Tod nicht alles zu
Ende geht, sondern der Geist des Verstorbenen,
wenn er will, bleiben oder
immer zurückkehren kann.
Benjamin hatte einfach nicht vergessen
können, was er in der kurzen Zeit in
dieser Dorfgemeinde erlebt hatte.
Zu schön waren seine Erinnerungen an
die Zeit, wo er noch voller Spaß, Abenteuerlust
und Übermut durch Haus,
Garten, Wald und Felder tobte.
Die vielen Streiche, die er seinen Eltern
spielte, und das Glücksgefühl, das ihn
überkam, wenn er im hohen Gras lag und
zum Himmel schaute, während die Sonne
warm über sein Gesicht streichelte.
Was hat er in seinen Tagträumen, wenn er
im Gras lag, für tolle Abenteuer erlebt!
Doch so schlitzohrig, lausbubenhaft und
voller Streiche, die er gerne ausheckte,
Benjamin auch war, so hilfs-bereit, voller
Liebe und Wärme war er auch, wenn
es darum ging, anderen, speziell Tieren
in einer Not, zu helfen.
Und gerade dies war es, was Benjamin
zum Verhängnis geworden war.
Als er nämlich versuchte, einen jungen
Fuchs, der, hilflos treibend, im Wildbach
schwamm, zu retten, rutschte Benjamin
am schlickigen Ufer aus und fiel
selbst kopfüber ins Wasser.
Zwar schaffte es Benjamin, den Fuchs
zu packen und sich mit ihm wieder ans
Ufer zu retten. Doch durch die Kälte des
Wassers und des abklingenden Winters
sowie wegen des langen Fußweges anschließend
nach Hause erkrankte Benjamin
an einer schweren Lungenentzündung,
von der er sich nicht mehr erholte.
Benjamin starb nach einer Woche.
In der ersten Zeit, nachdem Benjamins
Seele seinen Körper verlassen hatte,
wollte Benjamin es nicht wahrhaben, dass
er gestorben war.
Er versuchte laufend, seinen Eltern begreiflich
zu machen, dass, auch wenn er
tot ist, er trotzdem bei ihnen sei.
Als er nach einer gewissen Zeit die Sinnlosigkeit
seiner Versuche, sich bemerk-bar
zu machen, erkannte, weil seine Eltern
auf keines seiner 'Zeichen' reagierten,
wurde ihm bewußt, dass er ein 'Geist'
war und in einer Welt existierte, die von
den 'Lebenden', wenn sie nicht sensibel
genug sind, niemals wahrgenommen
wird.
Nachdem Benjamin dies bewußt geworden
war, lief er aus dem Haus, in den
Garten - zur alten Buche -, schmiß sich
ins Gras und weinte bitterlich.
Er kam sich so unendlich allein und
verlassen vor.
Doch urplötzlich in sein Weinen hinein
vernahm Benjamin auf einmal eine wohltuende,
warme und liebevolle Stimme,
die ihn seinen Schmerz urplötzlich ver-gessen
ließ.
"Benjamin, Benjamin - weine nicht!
Es wird alles gut, denn es kommt alles
so, wie es im 'Großen Buch des Lebens'
geschrieben steht.
Noch ist es schwer für dich zu begrei-fen,
dass das Leben nach dem Tode
weitergeht.
Du bist nicht allein, denn viele Wesenheiten
in dem Reich, in dem du jetzt
lebst, werden zu dir kommen, wenn du
bereit bist, dieses Leben als Geist zu
akzeptieren.
Du mußt nur jetzt lernen, 'neu' zu leben.
Zu leben in einer Welt, die den Lebenden
so lange verborgen bleibt, bis sie
erkennen, dass es keinen 'Tod' gibt."
Die Sonne schien blendend hell, und
Benjamin konnte nicht so genau sehen,
nachdem er die ganze Zeit geweint hatte.
Doch als er in die Richtung blickte, aus
der die Stimme kam, die so sanft war
und so klar - wie Musik klang sie ihm in
den Ohren -, erblickte er die große weiße
Eule, die ihn mit weisen liebevollen Augen
anschaute.
"Du?" rief Benjamin erstaunt. "Es ist also
wahr, was sich die Menschen aus dem
Dorf über dich erzählen?"
Lächelnd erwiderte die Eule auf Benjamins
erstaunte Frage: "Ja, Benjamin. Sie sind
näher an der Wahrheit, als sie es sich
vorstellen können.
Doch bis zum absoluten Erkennen ist es
noch ein langer Weg für sie."
"Sage mir, Weise, - so heißt du doch, oder?"
fragte Benjamin vorsichtig und hielt ein. Als
die Eule lächelte und mit ihrem Kopf nickte,
fuhr Benjamin mit seiner Frage fort, "Sage
mir doch bitte, warum du so heißt."
Wiederum lächelte die Eule, als sie auf
seine Frage antwortete:
"Weißt du, Benjamin, die Menschen gaben
mir diesen Namen, weil sie Gott einen
Namen gaben, so, wie sie allem, was für
sie geheimnisvoll und unerklärlich ist, ei-nen
Namen geben, damit es für sie erklär-bar
wird.
Erst wenn sie reif sind und die Wahrheit
erkennen, erkennen sie das Unerklärliche
und sich selbst sowie ihren Weg und ihr
Ziel, und begreifen, dass das Leben in
vielfältigen Formen existiert."
"Gut", meinte Benjamin, obwohl er ihre
Worte nicht verstand - noch nicht, "dann
erkläre mir doch, bitte, warum mußte ich
sterben?
Ich wollte doch nur dem kleinen Fuchs
helfen. Worin liegt da der Sinn?"
Wieder traten Benjamin die Tränen in die
Augen, weil der Schmerz erneut in ihm
hochkam.
Lange schaute die Eule Benjamin an. Lange
und durchdringend. In dem Moment,
als Benjamin seine Frage wiederholen
wollte, sagte die Eule plötzlich zu ihm:
"Höre mir jetzt gut zu, Benjamin, und
merke dir jedes meiner Worte genau:
Alles - egal, was es auch ist, selbst der
irdische Tod, hat seinen 'Sinn'.
Doch was hilft es dir, wenn ich es dir jetzt
erkläre? Zwar wüßtest du es dann, doch
du würdest es nicht verstehen oder erkennen.
Warte ab! Und höre auf meinen Rat,
den ich dir nun gebe: Lerne, neu zu leben,
lerne und erkenne! Dann wirst du den Sinn
all dessen verstehen und vor allem 'erkennen',
was der Sinn ist.
Denn alles hat seine Zeit und alles seine
Stunde. Auch für dich gilt dieses Gesetz.
Dir, Benjamin, wurde etwas gegeben, das
einem nur sehr selten zugesprochen wird.
Auch wenn du jetzt noch glaubst, dass dir
durch deinen irdischen Tod alles genommen
wurde.
Bis es soweit ist, Benjamin, dass du reif
genug bist, auf all deine Fragen eine Antwort
zu erhalten, will ich dir eine gute
Freundin und Wegbegleiterin sein. Ich will
dir Schritt für Schritt helfen auf dem Weg,
den du von nun an gehen wirst."
So geschah es, dass Benjamin und die 'alte
weise' Eule Freunde wurden. Freunde ganz
besonderer Art.
2
Der lange Winter war fast vorbei.
Die ersten warmen Sonnenstrahlen ließen
den Schnee schmelzen, und die ersten
Vorboten des Frühlings hielten ihren
Einzug.
Alles deutete daraufhin, dass es ein wunderbarer
Tag werden würde.
Doch Benjamin schien dies alles gar
nicht zu bemerken.
Selbst seine kleinen Freunde, die Benjamin
zwischenzeitlich gefunden hatte -wie
'Archibald', die Spitzmaus, 'Stoffel',
das Wildkaninchen, 'Fräulein Henja',
die Elster, oder 'Bienchen', die Honigbiene-,
verstanden Benjamins Verhalten nicht.
Er schien sie überhaupt nicht zu bemerken.
Ratlos blickten sie ihren kleinen
Freund an, wie er unruhig im Haus
auf und ab lief. Plötzlich drehte Benjamin
sich um, blickte alle stirnrunzelnd
an und lief dann hinaus zur alten Buche.
Etwas Seltsames schien in der Luft zu
liegen, was Benjamin sich nicht erklären
konnte.
Nervös marschierte Benjamin unter der
alten mächtigen Buche auf und ab.
Dabei schaute er immer wieder zum
Sennehaus hinüber. So, als müßte dort
jeden Moment etwas geschehen.
Doch es tat sich nichts. Ruhig und friedlich
wie immer stand das Sennehaus im
Schein der Sonnenstrahlen.
Kopfschüttelnd setzte sich Benjamin hin,
um gleich wieder aufzuspringen, um
abermals unruhig auf und ab zu marschieren.
Was war nur los?
Benjamin wußte es nicht.
Eine ganze Weile schon hatte die 'alte
Weise' schweigend diesem Treiben zugesehen.
Doch als Benjamin plötzlich mit
voller Wucht und einem lauten Schrei
gegen den Stamm der Buche trat, so,
dass seine kleinen Freunde, die ihm gefolgt
waren, erschrocken nach allen
Seiten sprangen, ermahnte sie ihn mit
einer klaren und etwas strengen Stimme:
"Benjamin, was ist nur heute morgen los
mit dir?"
"Ich weiß es nicht, 'Weise', es ist nur so
ein eigenartiges Kribbeln in mir, das mich
nervös macht. Und ich weiß absolut
nicht, woher es kommt", erwiderte
Benjamin.
"So nervös, dass du vor den Stamm der
Buche treten und deine Freunde erschrecken
mußtest, Benjamin?" fragte ihn
die Eule.
Benjamin scharrte mit seinem Fuß über
den Boden hin und her, hielt seine Hände
fest in die Hosentaschen gedrückt,
sein Kopf neigte sich leicht nach unten,
wobei man deutlich seine roten Ohren
sah, die bestimmt nicht nur allein von
der noch vorhandenen Kälte des abschiednehmenden
Winters kommen konnten,
als er sagte:
"Tut mir leid, ich wollte keinem weh tun
oder jemanden erschrecken.
Verzeih mir, bitte! Es soll nie wieder
vorkommen. Ehrlich!"
Das Rauschen der Äste im Wind schien
etwas zu Benjamin zu sagen, doch er
nahm dies gar nicht wahr.
Viel zu sehr war Benjamin schon wieder
in seine Gedanken versunken, als auf
die Antwort, die ihm der Baum gab, zu
achten.
"Sag mal, Weise", fragte Benjamin nach
einer ganzen Weile, "du weißt doch eigentlich
alles, oder? Kannst du mir nicht
erklären, was mich so nervös macht?"
Die Eule plusterte sich nur auf, schüttelte
ihr Gefieder und antwortete klar:
"Tut mir leid, Benjamin, aber darauf kann
ich dir keine Antwort geben."
"Mist!" schimpfte Benjamin, "Wer kann
es dann, wenn nicht du?" Damit drehte
er sich um und lief, ohne sich noch einmal
umzudrehen, 'runter zum Wildbach.
Hätte Benjamin sich umgedreht, dann
hätte er sehen können, wie die alte Eule
liebevoll hinter ihm herlächelte.
Natürlich hätte sie ihm eine Antwort auf
seine Frage geben können, doch sie
wußte auch, dass sie in den Lauf der Zeit
nicht eingreifen durfte. - Speziell bei
Benjamin nicht.
Ruhig und doch voller Kraft floß das
Wasser den Wildbach hinunter. Ab und
zu schlugen kleine Wellen am Flußufer
hoch.
Benjamin saß auf einem dicken Ast, der
über dem Wildbach wuchs, und schaute
gedankenverloren auf's Wasser.
Archibald, die kleine Spitzmaus, war
ihrem Freund als einzige gefolgt, während
die anderen Tiere bei der alten Eule
geblieben waren, und beobachtete ihn
mit wachsamen Knopfaugen vom Flußufer
aus.
Der Weidenstock in Benjamins Hand
tippte von Zeit zu Zeit ins Wasser, so,
als wolle er damit den Lauf des Wassers
stoppen.
Benjamin mußte ungefähr eine halbe
Stunde dort gesessen haben, als es anfing.
Erst leise und dann immer lauter wurden
diese Geräusche, die ihn hochschrecken
ließen.
Mit einem Satz war Benjamin auf den
Füßen, hob Archibald hoch auf seine
Schulter und rannte in die Richtung, aus
der die Geräusche kamen.
Unterwegs erkannte Benjamin voller
Entsetzen, dass seine Beine ihn in Richtung
Sennehaus trugen.
"Jetzt ist es so weit, jetzt reißen sie das
Sennehaus ab, weil keiner mehr darin
wohnt und wohnen will!" dachte Benjamin
voller Angst.
Sein Herz pochte bis in die Ohren, sein
Puls raste, als er endlich dort ankam.
Und dann sah er sie - die vielen Menschen,
Autos und Transporter.
Doch anstatt das Sennehaus abzureißen,
begaben sich die Menschen an verschie-dene
Stellen des Hauses und des Grundstücks,
um mit Renovierungsarbeiten
anzufangen.
Wohlwissend, dass ihn keiner sehen konnte,
betrat Benjamin neugierig das Haus,
um Näheres zu erfahren.
Mitten in dem Raum, wo früher das
Wohnzimmer seiner Eltern gewesen war,
sah er zwei Männer stehen, wovon einer
einen Stift und einen Block in der Hand
sowie eine große weiße Papierrolle unter
dem Arm hielt, während der andere Mann
irgend etwas mit seinen Händen vorzeigte.
Beim Näherkommen hörte Benjamin, wie
dieser Mann sagte:
"Hier möchte ich einen großen Kamin
hinhaben. Alle Räume sollen hell und
freundlich sein, und in die beiden Kinderzimmer
sollen eingebaute Wandschränke,
damit meine Kinder genug
Platz zum Spielen haben."
Es war, als zöge ein Schleier vor Ben-jamins
Augen, und wie aus weiter Ferne
hörte er nur noch das Wort "Kinder".
Wie ein Echo klang dieses Wort dumpf
in seinen Ohren.
Dann kam Leben in Benjamin, und mit
einem Freudenschrei rannte er hinaus zur
alten Eule, um ihr die Neuigkeit, die er
gerade erfahren hatte, zu erzählen.
Während die Renovierungsarbeiten am
Sennehaus zügig voranschritten, saß Benjamin
draußen bei seiner Freundin, der alten
Eule, auf dem Baum und beobachtete von
dort aus das bunte Treiben.
"Sag mal, Weise, kannst du dir vorstellen,
wie lange es noch dauert, bis die Menschen
dort mit ihrer Arbeit fertig sind?"
"Nein", erwiderte die Eule, "es kommt
darauf an, was dort alles im Ganzen getan
werden muß. Deshalb weiß man nie genau,
wie lange so etwas dauert.
Du weißt doch, Benjamin, dass alles seine
Zeit und alles seine Stunde hat. Du
mußt lernen, Geduld zu haben!
Alles wird genauso kommen, wie es
geschrieben steht im 'Großen Buch des
Lebens'."
"Geduld, Geduld - wie lange muß ich
sie denn noch haben?" murmelte Benjamin
ärgerlich in sich hinein. "Geduld
haben zu müssen, ist so schrecklich
langweilig."
Plötzlich wurde Benjamin durch Geräusche
aufgeschreckt, die ihm nicht
bekannt waren. Als er zur Vorderseite
des Sennehauses eilte, sah er, wie die
Männer alle Arbeitssachen einpackten
und kurz darauf mit ihren Autos davonfuhren.
Verdutzt schaute Benjamin den Autos
nach, die im Schein der Abendsonne langsam
am Horizont verschwanden.
Außer dem Rauschen der Bäume im Wind
und dem Singen der Vögel war nichts
mehr zu hören.
Urplötzlich kam Leben in Benjamin, und
mit schnellen Schritten lief er den Weg
zum Sennehaus zurück.
Als er dort ankam, lief Benjamin durch
die geschlossene Eingangstür des Sennehauses
und blieb mit offenem Mund
und großen Augen im Flur stehen.
"Geisterfloh und Morschelbart! Wow!"
sagte Benjamin, als er sah, wie sehr sich
das Haus von innen her verändert hatte.
Bis auf die Treppe, die nach oben führte,
deutete nichts mehr darauf hin, dass
er - Benjamin - mal mit seinen Eltern
hier gelebt hatte.
Alles war so anders. Die Fenster waren so
groß, und es waren so viele, dass alle
Räume vom Sonnenlicht der untergehenden
Sonne sanft und warm durchstrahlt
wurden.
In Benjamin breitete sich eine eigenartige
Stimmung aus. Er fühlte sich auf
einmal so leicht, so ruhig, ja, richtig wohl
und befreit.
Mit diesem wohltuenden Befinden ging
er ganz langsam die Treppe hoch, die zu
dem oberen Stockwerk führte.
Auch hier oben empfand Benjamin dasselbe
Gefühl. Denn auch hier hatte sich
alles verändert.
Am Ende des Ganges fand Benjamin die
zwei Kinderzimmer. Sie waren an das
Sennehaus angebaut worden und durch
einen großen Balkon miteinander verbunden.
In beiden Zimmern hatte man durch
eine große Fensterfront einen wunderbaren
Ausblick auf die alte mächtige Buche
und den dahinterliegenden Wald.
Im Sommer bzw. schon im Frühjahr,
wenn alles blühen wird - die Blumen, die
Apfel- und Birnbäume und die Wiese
mit ihren zahlreichen Wiesenblumen -,
dann hat man einen Ausblick, der einem
Kraft, Liebe und ein Glücksgefühl schenkt.
Ja, Benjamin war jetzt schon glücklich.
So glücklich wie schon seit langer Zeit
nicht mehr.
Jetzt fehlten nur noch die Bewohner
dieses Hauses, vor allem die Kinder.
"Wann sie wohl kommen werden?" fragte
sich Benjamin und schaute gedankenverloren
zur alten Buche hin. "Geduld,
Benjamin, habe Geduld!" rauschte es von
der Buche zu ihm herüber.
"Ja, Weise, die will ich haben", sagte
Benjamin. Damit drehte er sich um und
verschwand ganz langsam im 'Nichts'.
Der Frühling kam, und alles wurde wieder
grün. Die Blumen leuchteten in allen Regenbogenfarben,
es roch nach frischem
Moos, nach Blumen und feuchter Erde.
Benjamin streifte ruhelos im Wald umher.
Dabei traf er Fräulein Xenia, die
Elster, die eifrig Gras und Moosbüschel
mit ihrem Schnabel aufpickte. "Guten
Morgen, Benjamin", begrüßte sie ihren
großen Freund.
"Guten Morgen, Fräulein Xenia. Was tust
du denn da so eifrig?" fragte Benjamin
die Elster.
"Oh, ich suche Material für ein neues
Nest. Das letzte hat leider dem Winter
und den Frühlingsstürmen nicht standgehalten.
Als ich die Bescherung heute
morgen sah, habe ich den Rest vom
Baum geschmissen, um ein neues am
selben Platz zu bauen." - "Aber warum
bleibst du denn nicht bei der alten Buche
wohnen?" wollte Benjamin wis-sen.
"Benjamin", sagte die Elster etwas vorwurfsvoll,
"es ist Frühling, da lebe ich
lieber hier draußen unter freiem Himmel.
Die Nächte werden wärmer, die anderen
Tiere kehren jetzt auch wieder hierher
zurück, es wird alles voller Leben sein.
Außerdem möchte ich die Gastfreundschaft
unserer 'Weisen' nicht überbeanspruchen,
und zum anderen ist es mir
lieber, wenn mein Nest nicht zu nahe bei
den Menschen ist. Du weißt doch, Ben-jamin,
dass wir es immer gewesen sind,
wenn bei den Menschen etwas verschwindet,
was für sie wertvoll er-scheint."
"Ist schon gut, Fräulein Xenia", erwiderte
Benjamin, "ich weiß, was du
meinst. Hauptsache, wir bleiben auch
weiterhin Freunde wie bisher."
"Worauf du dich verlassen kannst, Benjamin",
sagte die Elster und verschwand
irgendwo zwischen den Bäumen.
Nach diesem Gespräch setzte Benjamin
seinen ruhelosen Weg fort.
Nach ungefähr 100 m fand Benjamin eine
stabile Astgabel. Als er sie hochhob,
blitzte auf einmal eine Idee in ihm hoch.
Schnell lief Benjamin mit der Astgabel
zurück zur alten Buche, setzte sich ins
mittlerweile trockene Gras und fing an,
mit seinem Messer, das er im Sennehaus
gefunden hatte, an der Astgabel herumzuschnitzen.
Bald standen ihm die Schweißperlen auf
der Stirn, so vertieft und intensiv arbeitete
Benjamin daran. Erst die Stimme
der alten Eule holte ihn in die Gegenwart
zurück.
"Benjamin, Benjamin (langgezogen gesprochen)!
Ei, Benjamin!" rief die Eule
hinunter. "Ah, ja? - Was ist denn, Weise?"
fragte Benjamin und schaute hinauf
zu dem Ast, auf dem die Eule saß.
"Was arbeitest du so intensiv an der
Astgabel herum?"
"Äh, eigentlich nichts besonderes. Wenn
ich fertig bin, soll dies eine ganz besondere
Schleuder sein - nämlich meine."
"Und wenn du sie fertig hast, Benjamin,
was hast du dann mit ihr vor?" fragte
die Eule.
"Nun", erwiderte Benjamin, "das weiß
ich jetzt noch nicht, doch ganz bestimmt
nichts Schlimmes. Ehrenwort, Weise!"
"Ich glaube dir dein 'Ehrenwort', Benjamin.
Doch vergiß bitte niemals, dass du
sie nie zum Schaden anderer verwenden
darfst! Das ist sehr, sehr wichtig!"
"Ganz bestimmt werde ich dies niemals
tun, Weise."
"Dann will ich dich nicht weiter aufhalten,
Benjamin", sagte die Eule und
flog davon.
Sogleich begann Benjamin mit seiner
Arbeit auf's Neue. Er war mittlerweile
wieder so vertieft in seine Schnitzarbeit,
dass er die Geräusche, die vom Senne-haus
herkamen, gar nicht wahrnahm.
Erst das Bellen eines Hundes und die
Stimmen zweier Kinder ließen ihn erschrocken
aufblicken und aufspringen.
Dabei fielen ihm die fast fertige Schleuder
und das Messer aus den Händen.
Ehe Benjamin überhaupt begriff, was
geschah, standen sie sich gegenüber
-Benjamin, der Junge, das Mädchen und
der Hund. -
Alles wäre ja nicht so schlimm ge-wesen.
Doch als Benjamin von dem Jungen
gefragt wurde, wer er denn sei und ob
er hier in der Nähe wohne, war es mit
seiner Fassung vorbei.
Schwupp, weg war Benjamin.
"War das jetzt echt oder nicht?" fragte
der Junge seine Schwester.
"Ich weiß es nicht, Mikki. Das ging alles
so schnell. Ob es ein Geist war?"
"Wer weiß. Vielleicht. Komm, Maike, laß
uns zu Mam und Paps laufen. Vielleicht
können sie es uns erklären!"
Als sich die beiden umdrehten, fiel ihr
Blick auf die Schleuder und das Messer.
Mikki bückte sich, um sie aufzuheben.
"Sieh mal, Maike! Da steht ein Name
drauf!"
Mikki las: "B-E-N-J-A-M-I-N".
"Mm, eigenartig. Weißt du was, Maike?
Ich halte es für besser, wenn wir dies
hier für uns behalten. - Zumindest vorerst.
Glaubst du es auch?"
."Du hast Recht, Mikki", sagte seine
Schwester, "denn wenn es ein Geist war,
dann müssen wir so fair sein und ihn
erst einmal fragen, falls wir ihn noch
einmal sehen, ob es ihm recht ist, anderen
von seiner Existenz zu erzählen." -"
Toll", sagte Mikki, "gerade erst hier
angekommen, und schon haben wir ein
Super-Geheimnis!" Schnell verstauten sie
die gefundenen Sachen in ihren Hosentaschen
und liefen zurück zum Sennehaus.
Nur der Hund, der von allen Mr. Wuff
gerufen wurde, blieb bei der Buche zurück.
Mit freundlichen Augen blickte er
zur Buche hoch und erblickte die riesige
weiße Eule, die wie aus dem 'Nichts'
plötzlich wieder aufgetaucht war.
"Ja, Mr. Wuff, jetzt nimmt alles seinen
Lauf. Paß gut auf die Drei auf, sie werden
dich brauchen!" sagte die Eule.
"Wuff - ich weiß es, deshalb bin ich ja
auch hier, Weise." Dann lief Mr. Wuff
ebenfalls zurück zum Sennehaus, um
nach Mikki und Maike zu sehen.
Keiner von den 'Dreien', weder Benjamin,
Mikki noch Maike, ahnten zu diesem
Zeitpunkt etwas von den Abenteuern,
die vor ihnen lagen.
- Abenteuer, die sie durch die Welt der
Geister, Elfen, Feen, Zwerge und Gnome,
der Bäume, Pflanzen und Tiere führen
werden. -
Abenteuer, die für sie neue Freunde
und Erkenntnisse bereithalten. --
Abenteuer, die sie erkennen lassen, dass
Phantasie 'Realität' ist und Gedanken,
die man hat, sehr mächtig sind. -Als
Mikki und Maike am Sennehaus ankamen, wurden gerade die Möbelwagen abgeladen.
DIES IST NUR CA 15% DES BUCHES
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